Mit fachlichem und rechtlichem Inhalt
Seminar Februar 2019 >Aufsichtsverantwortung<
Die gegenüber Kindern und Jugendlichen bestehende Aufsichtsverantwortung umschließt zwei Komponenten:
- Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht: es geht darum, „Schaden“ zu vermeiden, der einem Kind/ Jug. zugefügt wird bzw. den ein Kind/ Jugdl. anderen zufügt bzw. sich selbst. Ein „Schaden“ ist allgemein definiert als ein „Nachteil, der durch Minderung oder Verlust an materiellen oder immateriellen Gütern entsteht“.
- Befugnis der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlicher/n (= gegenwärtige Lebensgefahr oder gegenwärtige schwerwiegende Gesundheitsgefahr des/r Kindes/ Jugendlicher/n bzw einer anderen Person → es darf in ein Kindesrecht eingegriffen werden, wenn dies erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist. Bei diesem s.g.„rechtfertigenden Notstand“ (Strafrecht) liegt keine Kindesrechtsverletzung vor. sondern „zulässige Macht“ i.S. des angebotenen Prüfschemas zulässige Macht.
1. Maßnahmen zivilrechtlicher Aufsicht sind fachlich begründbar/ legitim
- Zivilrechtliche Aufsicht, die darauf ausgerichtet ist, Schaden zu vermeiden, den ein/e/ Kind/ Jug. erleidet, verfolgt auch das Ziel, Eigenverantwortung zu lernen.
- Zivilrechtliche Aufsicht, die darauf ausgerichtet ist, durch das/die/den Kind/ Jug. anderen zugefügten Schaden zu vermeiden, ist damit verbunden, Gemeinschaftsfähigkeit nahe zu bringen.
Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht wird folglich wahrgenommen durch:
- Gespräch und/ oder Ermahnung
- verbale oder aktive pädagogische Grenzsetzung (Eingriff in ein Kindesrecht/ z.B. Festhalten damit zugehört wird)
Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht erfordert im Einzelfall:
- Vorhersehbarkeit im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Erforderlich ist eine Risikoanalyse: ist in der konkreten Situation für diese/s/n Kind/ Jugendlichen in dessen/deren Alter und Entwicklungsstufe sowie Vorgeschichte ein Schaden vorhersehbar?
- Maßnahmen, die erforderlich sind, um der Schadensgefahr zu begegnen
- Maßnahmen, die der/ dem PädagogIn zumutbar sind
Die Wahrnehmung der zivilrechtlichen Aufsichtspflicht bedeutet also, dass PädagogInnen auf der Grundlage ihres durch Sorgeberechtigte erteilten Erziehungsauftrags alles für sie Zumutbare zu bedenken und zu veranlassen haben, was einer vorhersehbaren Entwicklung entgegenwirkt, an deren Ende das/die/der Kind/ Jugendliche/r oder andere Personen durch ein/e/n Kind/ Jugendliche/n gesundheitlichen Schaden nehmen bzw. einen Vermögensschaden erleiden. Die Fragen, ob und wie die zivilrechtliche Aufsichtspflicht auszuüben ist, sind stets nur auf den konkreten Einzelfall bezogen beantwortbar.
Ein Beispiel: Ein Kind entfernt sich aus der Gruppe. Soll die Pädagogin die Gruppe allein lassen und das Kind verfolgen? Im Spannungsfeld „Aufsicht Kind – Aufsicht Gruppe“ ist die „Vorhersehbarkeit“ das wichtigste Entscheidungskriterium. Im Abwägungsprozess zwischen „Aufsichtsbedarf Kind“ und „Aufsichtsbedarf Gruppe“ sind die vorhersehba- ren jeweiligen Geschehensabläufe gegenüber zu stellen und im Sinne des damit verbundenen wahrscheinlichen Schadens zu gewichten. Dabei sind gesundheitliche Schäden gegenüber Sachschäden höherrangig. Erscheint das Gefahrenpotential auf Seiten des Kindes größer, ist dieses zu verfolgen und zugleich für die Gruppe die Notwendigkeit einer vorübergehenden Alleinbeschäftigung zu initiieren, wenn möglich getragen von delegierter Verantwortung auf ein insoweit belastbares Kind. Im anderen Fall entspräche der Verbleib in der Gruppe der Aufsichtspflicht, wenn möglich verbunden mit telefonischem Zuhilferufen einer/ s KollegIn, um das Kind zu verfolgen. Aufgrund der gebotenen Eilbedürftigkeit wird von der/ m PädagogIn ein schneller und daher potentiell fehlerhafer Abwägungsprozess erwartet.
Gerichtsbeschluss zum Umgang mit digitalen Medien/ „digitale Aufsichtsverantwortung“
2. Zusätzliche Hinweise zur Aufsichtsverantwortung:
- Zu unterscheiden ist also pädagogisches Verhalten von Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung eines Kindes/ Jugendlichen. Letzteres schließt aber nicht aus, dass zugleich auch pädagogische Ziele verfolgt werden: die Pädagogin handelt z.B. – bedingt durch den primären Erziehungsauftrag – auch pädagogisch, wenn sie während des Festhaltens zugleich beruhigend auf das aggressive Kind einwirkt. Sie verfolgt dann nicht nur das Ziel der Gefahrenabwehr, vielmehr auch das Ziel, diese kommunikativ so einzubetten, dass sie das Kind nicht zu sehr verstört. Zudem ist Voraussetzung für jede Maßnahme der Gefahrenabwehr, dass eine pädagogische Beziehung besteht. Diese ist wesentlich mitbestimmend dafür, ob sich z.B. ein Kind bzw. ein/e Jugendliche/r festhalten lässt. Die vorangegangenen Beziehungserfahrungen mit der/m PädagogIn sind in der Situation der Gefahrenabwehr also von großer Bedeutung.
- Ausgeschlossen muss sein, dass – weil auch ein pädagogisches Ziel verfolgt wird – Maßnahmen der Gefahrenabwehr (z.B. Postkontrolle) ausschließlich unter pädagogischen Aspekten betrachtet werden, quasi „pädagogisch importiert“. Im Gegenteil: da die rechtlichen Anforderungen der Gefahrenabwehr weiterreichen als die der fachlichen Legitimität, müssen die rechtlichen Voraussetzungen stets geprüft werden. „Der Zweck darf nicht die Mittel heiligen“. Es könnten Kindesrechte verletzt werden.
- Pädagogik kann zwischen dem/ r Kind/ Jugendlicher/ n und dem/ r PädagogIn ein „pädagogisches Band“ ermöglichen, das Maßnahmen zivilrechtlicher Aufsichtspflicht oder der Gefahrenabwehr minimiert, im Einzelfall sogar entbehrlich macht.
- Sofern in einer vorhersehbaren Gefahrenlage PädagogInnen ihre primäre pädagogische Verantwortung nicht wahrnehmen und sich darauf einrichten, in der weiteren Entwicklung auf eine akute Gefahr mittels Gefahrenabwehr zu reagieren, ist dies nicht nur fachlich unbegründbar und illegitim, vielmehr auch illegal.
3. Maßnahmen der Gefahrenabwehr: in akut gefährlichen Situationen der Eigen- oder Fremdgefährdung eines/r Kindes/Jugendlichen kommen aufgrund der Eilbedürftigkeit erforderliche, „verhältnismäßige“ und „geeignete“ Maßnahmen in Betracht. „Verhältnismäßig“ ist Verhalten, sofern keine andere für das Kind/ die/ den Jugendliche/n weniger gravierende Maßnahme in Betracht kommt. Wenn z.B. Ausweich- und Abwehrtechnik möglich ist, ist Festhalten „unverhältnismäßig“ und rechtswidrig. “Geeignet” ist Verhalten in der Gefahrenabwehr, wenn es aus Sicht eines (fiktiv) neutralen Beobachters in der Lage ist, der Gefährdung zu begegnen und auch nur dann, wenn die Situation mit dem betroffenen Kind/ Jugendlichen pädagogisch aufgearbeitet wird. Letzteres bedingt, dass besondere pädagogische Konzepte zu entwickeln sind, um mit Gefahrenabwehr- Maßnahmen verbundene negative Nebenwirkungen zu neutralisieren. Die pädagogische Aufarbeitung wird in der Regel nachträglich erfolgen, freilich so schnell wie möglich. Die „Eignung“ des Verhaltens fehlt darüber hinaus z.B. auch dann, wenn ein um sich schlagendes Kind auf dem Boden festgehalten wird, das insoweit durch sexuellen Missbrauch traumatisiert ist. In dieser Situation sind andere Formen der Gefahrenabwehr zu überlegen. Ansonsten wäre das Verhalten rechtswidrig.
Die akute Eigen- oder Fremdgefährdung erfordert die gegenwärtige Lebensgefahr oder gegenwärtige schwerwiegende Gesundheitsgefahr eines/r Kindes/ Jugendlichen oder einer anderen Person.
Bei einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung des/ r Kindes/ Jugendlichen muss die Reaktion (z.B. Festhalten am Boden bei dem Angriff auf ein anderes Kind)
- erforderlich
- geeignet
- und „verhältnismäßig“ sein, das heißt dass keine weniger intensiv in das Kindesrecht eingreifende Maßnahme in Betracht kommt.
4. Definition der Gefahrenstufen:
- Gefahr im Rahmen zivilrechtlicher Aufsichtspflicht bedeutet hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Ein möglicher Schaden (latente Gefahr) reicht nicht.
- Akute Eigen- oder Fremdgefährdung im Rahmen der Gefahrenabwehr (z.B. Notwehr) bedeutet hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadens.
5. Übersicht „Doppelauftrag Erziehung und Gefahrenabwehr“