Zielkonflikte im Alltag möglich
I. BILDER ZUM DOPPELAUFTRAG ERZIEHEN – AUFSICHT
Erziehen und Beaufsichtigen als gesellschaftlicher Doppelauftrag
II. BEDEUTUNG DES DOPPELAUFTRAGS ERZIEHEN – AUFSICHT
Vorab ein Text, der den Unterschied zwischen Erziehung und Aufsicht verdeutlicht: Stufen der Gefahrensituationen
Der gesellschaftliche Doppelauftrag Erziehender beinhaltet:
- Pädagogik als Persönlichkeitsentwicklung
- Aufsichtsverantwortung:
- als zivilrechtliche Aufsichtspflicht im Rahmen einer Gefahr für ein/e/n Kind/ Jugendliche/n durch Andere oder für Andere durch ein/e/n Kind/ Jugendliche/n: bei vorhersehbarem und vermeidbarem Schaden im Rahmen für die/den PädagogIn zumutbarer Maßnahmen
- Befugnis der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlicher/n (= gegenwärtige Lebensgefahr oder gegenwärtige schwerwiegende Gesundheitsgefahr des/r Kindes/ Jugendlichen bzw einer anderen Person). Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen darf in ein Kindesrecht eingegriffen werden (z.B. in das Recht der körperlichen Unversehrtheit), wenn dies erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist (s.g.„rechtfertigenden Notstand“ (Strafrecht)/ eine Kindesrechtsverletzung liegt nicht vor). „Verhältnismäßig“ ist Verhalten, sofern keine andere für das Kind/ die/ den Jugendliche/n weniger gravierende Maßnahme in Betracht kommt. Wenn z.B. Ausweich- und Abwehrtechnik möglich ist, ist Festhalten „unverhältnismäßig“ und rechtswidrig. “Geeignet” ist Verhalten in der Gefahrenabwehr, wenn es aus Sicht eines (fiktiv) neutralen Beobachters in der Lage ist, der Gefährdung zu begegnen und auch nur dann, wenn die Situation mit dem betroffenen Kind/ Jugendlichen pädagogisch aufgearbeitet wird.
Da die Ziele der Pädagogik und der Aufsicht höchst unterschiedlichen Inhalts sind, stellt dieser Doppelauftrag eine besondere Herausforderung dar, der sich das Projekt mit Strukturvorschlägen stellt.
Zu unterscheiden ist pädagogisches Verhalten insbesondere von Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung eines Kindes/ Jugendlichen. Letzteres schließt nicht aus, dass zugleich auch pädagogische Ziele verfolgt werden. Die/ der PädagogIn handelt – bedingt durch den primären Erziehungsauftrag – auch pädagogisch, wenn sie/ er z.B. während des Festhaltens zugleich beruhigend auf ein aggressives Kind einwirkt. Sie/ er verfolgt dann nicht nur das Ziel der Gefahrenabwehr, vielmehr auch das Ziel, diese Gefahrenabwehr kommunikativ so einzubetten, dass sie das Kind nicht zu sehr verstört bzw. sogar zur Kooperation ermuntert. Zudem ist Vorraussetzung für jede Maßnahme der Gefahrenabwehr, dass eine pädagogische Beziehung besteht. Diese ist wesentlich mitbestimmend dafür, ob sich z.B. ein Kind festhalten lässt. Die vorangegangenen Beziehungserfahrungen mit der/m PädagogIn sind in der Situation der Gefahrenabwehr also von großer Bedeutung.
Wenn aber – aufgrund des Doppelauftrags „Pädagogik- Aufsicht“ – Maßnahmen der Gefahrenabwehr zugleich auch pädagogische Ziele verfolgen können, ist es doch aus Gründen der Handlungssicherheit verantwortlicher PädagogInnen und des Schutzes der Kindesrechte unumgänglich, die beiden sehr unterschiedlichen Aufträge zunächst in ihrem jeweiligen Profil getrennt zu betrachten:
- Das Verfolgen eines pädagogischen Ziels erfordert – neben der Beachtung der Rechtsordnung – vorrangig „fachliche Begründbarkeit„, d.h. ein fachliches Profil.
- Die Gefahrenabwehr erfordert hingegen im ausschließlich rechtlichen Kontext, dass damit verbundene Maßnahmen „erforderlich, geeignet und verhältnismäßig“ sind.
Ausgeschlossen muss sein, dass – weil auch ein pädagogisches Ziel verfolgt wird – Maßnahmen der Gefahrenabwehr nur unter pädagogischen Aspekten betrachtet werden, quasi „pädagogisch importiert“. Im Gegenteil: da die rechtlichen Anforderungen der Gefahrenabwehr, d.h. der Legalität, weiter reichen als die der fachlichen Legitimität, müssen die rechtlichen Voraussetzungen stets geprüft werden. Würden Maßnahmen der Gefahrenabwehr lediglich pädagogisch betrachtet und begründet, bestünde die große Wahrscheinlichkeit, dass die in der Gefahrenabwehr zu beachtenden rechtlichen Voraussetzungen übersehen werden und in ausschließlich pädagogischer Sicht „der Zweck die Mittel heiligt“. In diesem Fall könnten Kindesrechte verletzt werden.
Wichtig sind auch folgende Erkenntnisse:
- Wenn es die Situation ermöglicht, d.h. keine akute Gefahrenlage vorliegt, sollte der Eigen- oder Fremdgefährdung eines Kindes/ Jugendlichen mit pädagogischem Verhalten begegnet werden, z.B. mittels eines intensiven Gesprächs. Dies kann im weiteren Verlauf einer akuten Gefahrenlage entgegen wirken, somit Maßnahmen der Gefahrenabwehr und damit verbundene Eingriffe in Kindesrechte entbehrlich machen.
- Sofern einer akuten Gefährdung mittels Maßnahmen der Gefahrenabwehr begegnet wird, entspricht der damit verbundene Eingriff in ein Kindesrecht (z.B. Festhalten) nur dann der rechtlichen Voraussetzung „geeignet“, wenn der Vorfall anschließend pädagogisch aufgearbeitet wird.