Drei Stufen des Reglementierens


Regeln: fachlich verantwortbar?


I. STUFEN DES REGLEMENTIERENS

Anbieter können in dreierlei Hinsicht Regeln aufstellen:

  • Regeln in der Hausordnung: Inhalt des mit Eltern/ Sorgeberechtigten abgeschlossen Betreuungsvertrags. Beispiele: Verbot bestimmte persönliche Gegenstände wie PC in die Einrichtung mitzubringen, Nachtruhegebot. Es handelt sich um Regeln, die der Anbieter im Interesse des „gedeihlichen Zusammenlebens“ für erforderlich hält. Dabei geht es primär nicht darum, bestimmte pädagogische Ziele zu erreichen (pädagogische Regel).
  • Regeln zur Gefahrenabwehr: im Einzelfall für ein/e Kind/ Jugendliche/n wegen Eigen- oder Fremdgefährdung festgelegt. Beispiel: Verbot einer Stablampe, die wegen Aggressivität als Waffe benutzt werden kann. Bemerkung: eine entsprechende Gruppenregel käme nur in Betracht, wenn und solange von allen Gruppenmitgliedern eine Fremdgefährdung ausgeht.
  • Pädagogische Regeln: für eine Gruppe oder ein/e Kind/ Jugendliche/n mit pädagogischem Ziel festgelegt. Beispiel für eine pädagogische Gruppenregel: jede/r übernimmt Aufgaben für die Anderen, etwa hinsichtlich Raumsäuberung oder Küchendienst. Beispiel einer individuellen pädagogischen Regel: Vorenthalten eines Gegenstandes, verbunden mit der Vereinbarung, diesen im Rahmen eines Verstärkerplans zu erwerben. Bemerkung: individuellen pädagogischen Regeln sollte wegen des auf den Erziehungsbedarf der/s einzelnen Kindes/ Jugendlichen ausgerichteten Zwecks gegenüber pädagogischen Gruppenregeln der Vorzug gegeben werden. Individuelle pädagogische Regeln und pädagogische Gruppenregeln unterliegen dem Anforderungsprofil der „fachlichen Begründbarkeit“ (Prüfschema 1  Prüfschema 1 Diagramm  Prüfschema 2  Prüfschema 3  Prüfschema 4)

Anhand des Prinzips „3 Stufen des Reglementierens“ lässt sich darstellen, dass eine Regel auf allen 3 Stufen ausgesprochen werden kann: zum Beispiel das Verbot des Besitzes einer Stablampe als generelle Vorgabe der Hausordnung, als individuelles Verbot mit dem Ziel der Gefahrenabwehr und als individuelle pädagogische Regel, verbunden mit einem Verstärkerplan. Entscheidend ist stets das verfolgte Ziel. Auch wenn rechtlich betrachtet in der Stufe der Hausordnung vieles reglementiert werden kann, wird doch empfohlen, einerseits nicht zuviel zu reglementieren, andererseits den Großteil der Regeln in der individuellen Stufe pädagogischer Regeln zu setzen, in der individuellen Stufe der Gefahrenabwehr nur, wenn die Mittel der Pädagogik ausgeschöpft sind.

Neben einzelnen Erziehungsmaßnahmen kann jede Regel im Rahmen des fachlich- rechtlichen Problemlösens i.S. des Einhaltens der fachlichen und der rechtlichen Erziehungsgrenze überprüft werden (Prüfschemata). Dies gilt entsprechend für die Leitung, den Träger oder einer Behörde wie Jugendamt, Landesjugendamt, Schulaufsicht. Die Prüfschemata sind also u.a. mit folgenden Fragen verknüpft :

  • Ist die Regel fachlich verantwortbar, d.h. verfolgt ein nachvollziehbares pädagogisches Ziel (Legitimität) ?
  • Entspricht die Regel den Gesetzen und der Rechtsprechung (Legalität) ?

II. WANN SIND STRAFEN LEGITIM, WANN LEGAL?

In welchem Rahmen sind Strafen (Reaktionen auf unerwünschtes Verhalten) fachlich verantwortbar und rechtlich zulässig?

Hierzu folgende Hinweise : Pädagogische Regeln, die mit Strafen verbunden sind, vefolgen das Ziel der Eigenverantwortlichkeit bzw. der Gemeinschaftsfähigkeit durch eine positive Verhaltensentwicklung. Dies ist in Zweifel zu ziehen, wenn die Strafe keinen nachvollziehbaren Bezug zu einem pädagogischen Ziel hat, z.B. ein unmittelbarer Bezug zum Anlassverhalten der/s Kindes/ Jugendlichen nicht erkennbar ist. Dann ist die „fachliche Verantwortbarkeit“ i.dR. auszuschließen, d.h. die Regel illegitim.


In diesem Zusammenhang sei auf folge Beispiele hingewiesen:

  • Strafen sind als „Pädagogische Grenzsetzungen“ denkbar: als fachlich verantwortbare und rechtlich zulässige Macht.
  • Nicht verantwortbar/ rechtlich unzulässig sind z.B. Bloßstellen vor Anderen oder verbale Erniedrigungen (entwürdigende Maßnahmen i.S. § 1631II BGB).

Grenzwertige Situationen


Grenzwahrendes Verhalten


Übersicht zu legalen Handlungsoptionen im pädagogischen Alltag

Hier 2 fachlich- rechtlich bewertete Fallbeispiele: Fallbeispiele

„Systemsprenger“- Ursachen beseitigen!


Grenzen erkennen und sich diesen stellen, ist professionell !

Neben dem Thema Freiheitsbeschränkung- Freiheitsentzug sind weitere Grenzsituationen zu analysieren, die für die PädagogInnen mit Problemen der Handlungssicherheit – damit der Kindesrechte – verbunden sein können:

  • „Verhaltensmodifikation“/ Stufenpläne
  • Ausgangsregelungen/ Abstufung nach Gefährlichkeit
  • „Auszeit“ –  Maßnahmen
  • Festhalten und „körperlicher Zwang“
  • Antiaggressionstraining – „Heißer Stuhl“
  •  Körperliche Durchsuchungen/ Urinproben
  • Postkontrolle und andere Eingriffe in ein Grundrecht
  • „Sichentfernen“ aus der Einrichtung
Nur offene Diskussionskultur und Reflexion können dazu führen, dass ausreichende Handlungssicherheit in grenzwertigen Situationen des pädagogischen Alltags gewährleistet ist. Für diese Betriebskultur ist der Träger zuständig. Dabei ist den Pädagog*innen die Einsicht zu vermitteln, dass nur ein sich offen mit den eigenen Grenzen auseinandersetzendes Handeln professionell ist. Wer sich und Anderen nicht eingesteht, dass sie/ er im Einzelfall Fragen zur Legitimität bzw. Legalität eigenen Handelns hat, verhindert pädagogische Qualität, entzieht sich ihrer/ seiner pädagogischen Verantwortung. Jede/ r stößt – je nach Herausforderung der Situation – an eigene Grenzen. Um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen, ist die Klärung offener Fragen unumgänglich, insbesondere im Team. Der damit verbundenen Reflexion kann unser Prüfschemata zugrunde gelegt werden. Es ist u.a. ein Vorschlag unserer INITIATIVE HANDLUNGSSICHERHEIT, gedacht als Hilfe im Gesamtkontext professioneller Erziehung und wird in der EREV- BUNDESFACHTAGUNG vom 17. – 19. Mai 2022 in Bad Kissingen vorgestellt:
Hervorzuheben ist im Kontext des „Festhaltens“ von Kindern und Jugendlichen folgende Machtspirale, die PädagogInnen veranlassen sollte, vor im Regelfall eskalierenden Maßnahmen „aktiver pädagogischer Grenzsetzung“ alternative Erziehungsmethoden in Betracht zu ziehen:

  • Kind/ Jugendlichen stellen, damit es/sie/er zuhört (Pädagog*in stellt sich vor Kind/ Jugendliche/n)
  • kurzfristiges Festhalten am Arm, damit es/sie/er zuhört
  • in die Tür stellen, damit der pädagogische Prozess nicht eigenmächtig beendet  wird
  • Antiaggressionsmaßnahmen (AAM) wie „zu Boden bringen und festhalten“ (Bemerkung: aufgrund der Eskalation ist der pädagogische Prozess beendet, liegt eine Situation vor, in der es nur noch darum geht, Gefahren abzuwenden, die vom Kind/ der/dem Jugendlichen ausgeht (Gefahrenabwehr/ Aufsichtsverantwortung der/s Pädagog*in)

In diesem Kontext  sollte  durchaus  bedacht werden, wann eine „aktive pädagogische Grenzsetzung“ verbal angekündigt wird, kann doch die Glaubwürdigkeit der/ des PädagogIn zur Umsetzung der Ankündigung zwingen und damit eine „Machtspirale“ in Gang setzen, der im Endeffekt nur mittels körperlichen Eingreifens außerhalb pädagogischer Verantwortung begegnet werden kann, etwa beim Angriff eines Kindes/ Jugendlichen (Gefahrenabwehr).

Dabei ist auch folgendes zu berücksichtigen:

  • sinnvoll kann es sein, aus einer schwierigen Situation herauszugehen und damit einer/ m Kolleg*in einen neuen Zugang zu ermöglichen
  • dem Kind/ Jugendlichen eine Auszeit zu gewähren (es/er/sie „möge zunächst zu sich kommen“);
  • sollte bereits eine akute Gefahrenlage eingetreten sein, gebietet die Aufsichtsverantwortung ein sofortiges Einschreiten, z.B. bei einem Angriff auf einen Mitbewohner.
[/su_spoiler] [/su_accordion] Kontrollen – z.B. Leibesvisitation  Freiheitsentzug: fachlich- rechtliche Bewertung



Kindeswohl konkret


Kindeswohl konkreter fassen


 

Kwohl- Basis u. Wegweiser  Vortrag 2010- gemeinsames KW-Verständnis  UN-K.rechtskonv.


Ziel: gemeinsames Verständnis von „Kindeswohl“ bei Anbietern, Jugend- und Landesjugendämtern

Gleiches Verständnis von Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung sollte entwickelt werden. So wird der Gefahr beliebiger Interpretation begegnet, verbunden mit Auswirkungen auf die familiäre Erzie- hung sowie die institutionelle der Jugend-/ Behindertenhilfe, Internate, Kinder – und Jugendpsychiatrie. Dabei ist der Hinweis wichtig, dass aus einer Verletzung des Kindeswohls nicht ohne weiteres – Lebens- und erhebliche Gesundheitsgefahr ausgenommen – eine Kindeswohlgefährdung resultiert. Vielmehr ist dies erst der Fall, wenn eine zusätzliche Gefährdungsprognose mit gewisser Wahrscheinlichkeit die andauernde Verletzung des Kindeswohls ergibt.

Höchst unterschiedliche Auslegungen des Begriffs „Kindeswohl“ resultieren daraus, dass dieser im Sinne der Rechtslehreunbestimmte Rechtsbegriffzwar einen Beurteilungsspielraum zulässt, nicht jedoch Ermessen. Anders als beim Ermessen entspricht im Einzelfall  die Beurteilung eines Sachverhalts entweder dem Kindeswohl oder aber dies ist nicht der Fall. Mehrere denkbare Ergebnisse, unter denen im Rahmen von Ermessen eines herausgefiltert werden darf, sind undenkbar.

Es geht um die Stärkung der Handlungssicherheit von PädagogInnen in schwierigen Situationen der Pädagogik, insbesondere der stationären Erziehungshilfe: auf der Grundlage eines gemeinsam mit Jugend- und Landesjugendämtern verantworteten Systems ganzheitlich fachlich- rechtlicher Bewertung. Ein dementsprechend formuliertes und zur Orientierung umgesetztes Bewertungs- system soll helfen, verantwortbare „Macht“ von „Machtmissbrauch“ abzugrenzen, insoweit durch Konkretisierung des „Kindeswohls“ und der „Kindeswohlgefährdung“ zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen.

In der Aufarbeitung der Nachkriegsheimgeschichte ist ersichtlich, welche Bedeutung darin liegt, die Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ einer Definition zu öffnen. Dies gilt ganz besonders für die Kindeswohlgefährdung als Grenze elterlicher Erziehung, die durch Erziehungsauftrag auf Institutionen übertragen ist. Da auch in der heutigen Betreuung von Kindern und Jugendlichen Unklarheiten über Bedeutung und Inhalt des Kindeswohls und der Kindeswohlgefährdung bestehen, z.T. erkennbar in sehr unterschiedlichen Interpretationen von Jugendämtern und Landesjugendämtern, ist es wichtig, beiden Begriffen ein strukturiertes Profil zuzuordnen (zum Kindeswohl s. oben / zur Kindeswohlgerfährdung nachfolgend). Die zweigliedrige Kindeswohl- Definition umschließt daher sowohl den Bezug der Rechte von Kindern und Jugendlichen wie auch den mit pädagogischer Gestaltungsfreiheit versehenen Teil des Erziehungsauftrags. Zugleich ist erkennbar, wie wichtig gesetzlich abgesicherte Kindesrechte sind. Diese Analyse und Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs „Kindeswohl“ wird ergänzt durch den Kindeswillen, der weitestmöglich zu beachten ist. Eltern bzw. durch diese beauftragte PädagogInnen sind aber nicht an den Kindeswillen gebunden, da sie – je nach Entwicklungsstufe – die Kindesrechte für das/ die/ den Kind/ Jugendlichen treuhänderisch wahrnehmen (Art 6 GG).


Im Interesse der Handlungssicherheit der PädagogInnen und angesichts festzustellender Beliebigkeitsgefahr in Behörden besteht die Notwendigkeit, die Begriffe im Detail wie folgt zu konkretisieren. Vorab: im allgemeinen Sinn erfordert das „Kindeswohl“, dass die Entwicklung zur eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert wird (§ 1 Abs.1 Sozialgesetzbuch VIII/ SGB VIII) und die Kindesrechte beachtet werden. In der Pädagogik speziell ist – angesichts des Spannungsverhältnisses Erzieungsauftrag- Kindesrechte – zu beachten, dass jedes der Persönlichkeitsentwicklung nicht dienliche Verhalten (päd. nicht begründbar/ fachlich illegitim) automatisch ein Kindesrecht verletzt, da es vom Erziehungsauftrag nicht getragen ist.

KINDESWOHL

  • Kindeswohl umschließt das körperliche, geistige und seelische Wohl, in der Pädagogik sichergestellt durch fachlich legitimes, d.h. begründbares, Verhalten. Fachlich begründbar ist Verhalten, wenn nachvollziehbar ein pädagogisches Ziel der Eigenverantwortlichkeit  und/ oder „Gemeinschaftsfähigkeit“ verfolgt wird (§ 1 Abs.1 SGB VIII).

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG liegt im Kontext der Pädagogik vor:

  • Bei Lebens- oder erhebliche Gesundheitsgefahr
  • Bei prognostizierter andauernder Gefahr für die Entwicklung zur eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit in körperlicher, geistiger oder seelischer Hinsicht, verursacht durch fachlich nicht begründbares Verhalten. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Vernachlässigung. Vernachlässigung ist kindeswohlgefährdend, wenn aufgrund fehlender oder unzureichender Fürsorge elementare Bedürfnisse nicht oder nur mangelhaft befriedigt werden, mit der Prognose chronischer körperlicher, geistiger oder seelischer Unterversorgung.

IM ÜBRIGEN LÄSST SICH DAS KINDESWOHL ANHAND FOLGENDER KRITERIEN BEURTEILEN:

 


IN GRAPHISCHER DARSTELLUNG DIE DREI ELEMENTE DES KINDESWOHLS: