Grenzen setzen: Spannungsfeld Erziehungsauftrag-Kindesrechte
I. ZULÄSSIGKEIT VON EINGRIFFEN IN KINDESRECHTE IM SPANNUNGSFELD MIT DEM ERZIEHUNGSAUFTRAG
1. Fallbeispiel (Initiative Handlungssicherheit → Intensivgruppe für Jungen/ Handykontrolle)
In der Gruppe kursieren Gerüchte über unerlaubte Dateien auf einigen Handys (Pornographie, gewaltverherrlichende Texte). Die Pädagogen durchsuchen im Beisein der Jugendlichen die Handys. Bei zwei Jugendlichen werden Pornofilme mit minderjährigen „Darstellern“ gefunden. Die Handys werden einbehalten und nach Rücksprache mit der Polizei bei der zuständigen Dienststelle abgegeben.
2. Grundsatzthema „Eingriffe in Kindesrechte“
Die elterliche Erziehung und auf der Grundlage elterlichen Erziehungsauftrags durchgeführte Pädagogik unterliegen in fachlichem und rechtlichem Bezug denselben Anforderungen. Soweit Pädagogik in grenzsetzender Form verantwortet wird, muss diese zwangsläufig Rechte von Kindern und Jugendlichen (Kindesrechte) tangieren. In diesem Sinne greift jede verbale pädagogische Grenzsetzung – z.B. ein Verbot – automatisch in ein Kindesrecht ein, in der Regel in das Persönlichkeitsrecht der „Allgemeinen Handlungsfreiheit“ (Art 2 I GG). Das gleiche gilt für „aktive pädagogische Grenzsetzungen“ wie Handywegnahmen. Es besteht ein „natürlicher Machtüberhang in der Erziehung“. Auch kann von einem „natürlichen Spannungsfeld“ zwischen den Kindesrechten und dem Erziehungsauftrag gesprochen werden.
Merke: Es ist wichtig, zwischen Eingriffen in Kindesrechte und deren Verletzung zu unterscheiden.
Pädagogische Grenzsetzungen (verbal oder aktiv), d.h. pädagogisch begründbare (Frage 1 des Prüfschemas/ nachfolgend) Eingriffe in ein Kindesrecht, sind nicht nur fachlich begründbar, vielmehr auch rechtlich zulässig. Wären solche Eingriffe rechtlich unzulässig, wäre jede grenzsetzende Pädagogik unmöglich. Rechtswidrigkeit im Sinne des Verletzens eines Kindesrechts liegt erst dann vor, wenn eine pädagogische Grenzsetzung ohne Wissen und Wollen Sorgeberechtigter (Zustimmung ) praktiziert wird (Frage 3 des Prüfschemas) und darüber hinaus die rechtlichen Voraussetzungen der Gefahrenabwehr (Frage 4 des Prüfschemas) nicht erfüllt sind. Erst dann beinhaltet der mit der Grenzsetzung verbundene Kindesrechtseingriff eine Kindesrechtsverletzung, stellt einen „Machtmissbrauch“ dar.
3. Fachlich-rechtliche Würdigung des Fallbeispiels entsprechend dem nachfolgenden Prüfschema zulässige Macht
Prüfschema erklärt
Kindesschutzkonzept
II. WANN LIEGT MACHTMISSBRAUCH VOR ?
In Jugend-/ Behindertenhilfe, Schule/ Internat, Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt in folgenden Fällen Machtmissbrauch vor:
a. Verhalten der PädagogInnen ist bei Eingriffen in Kindesrechte (Grenzsetzungen) „machtmissbräuchlich“,
- wenn es zwar fachlich verantwortbar ist, d.h. das Verfolgen eines pädagogischen Ziels erkennen lässt, jedoch die Zustimmung Sorgeberechtigter (bei Taschengeld des Kindes/ Jugendlichen) fehlt und keine akute Eigen-/ Fremdgefährdung des/r Kindes/Jug. vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird.
- wenn es fachlich nicht begründbar ist und keine akute Eigen-/ Fremdgefährdung des/r Kindes/Jug. vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird.
- wenn es sich als Kindeswohlgefährdung darstellt.
- wenn es als strafbar einzustufen ist.
b. Machtmissbrauch in Behörden („Willkürverbot“) liegt in folgenden Fällen vor:
- Eine Entscheidung ist fachlich unverantwortbar, d.h. sie beinhaltet keine nachvollziehbare Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern/ Jugendlichen (Kindeswohl), oder sie entspricht nicht der Rechtsordnung, verletzt insbesondere Kindesrechte.
- Eine Entscheidung verletzt Art. 3 CRC (UN Kinderrechtskonvention), d.h. sie ist nicht vorrangig auf das Kindeswohl ausgerichtet. Letzteres ist der Fall, wenn Eigeninteressen im Vordergrund stehen oder sachfremde Erwägungen.
- Eine Entscheidung stellt sich als „kindeswohlgefährdend“ oder als Straftat dar.
Beispiele fachlicher Unbegründbarkeit sind auch im Kontext sexueller Übergriffigkeit hervorzuheben:
- In Abgrenzung zu pädagogisch begründbarer Zuwendung handelt es sich um Machtmissbrauch, wenn kein nachvollziehbares pädagogisches Ziel verfolgt wird. Dieser in der Praxis oft als Grauzone empfundene Bereich ist von hoher Bedeutung, geht über den Rahmen strafbaren Verhaltens (sexueller Missbrauch) weit hinaus. Wenn also der Pädagoge ein sechsjähriges Mädchen bei der Begrüßung umarmt, ist dies in hohem Maße mit Zuwendung gleichzusetzen. Wenn aber der Pädagoge das Mädchen auf seinen Schoß setzt, um mit ihm „Reiterspiele“ zu machen, stellt sich die Situation anders dar.
Zur Abgrenzung sexuelle Selbstbestimmung – Machtmissbrauch
Der Begriff „Machtmissbrauch“ darf nicht unbestimmt bleiben. Er hat im vorbeschriebenen Umfang eine fachliche und eine rechtliche Komponente, ist somit eng verknünpft mit der Zweigliedrigkeit des Kindeswohls.
III. TASCHENGELDANSPRUCH
Der Taschengeldanspruch ist höchstpersönlich. Das Taschengeld darf nur mit Zustimmung des Kindes/ Jugendlichen einbehalten oder verwendet werden. Letzteres erfordert daher eine pädagogische Vereinbarung zwischen Kind/ Jugendlichem und Anbieter, abgeleitet aus einer pädagogischen Regel, die am besten bei der Aufnahme bekannt ist und akzeptiert wird. Die Regel lautet z.B.: „Bei uns hast Du Dich zur Wiedergutmachung eines von Dir verursachten Schadens am Eigentum der Einrichtung oder am Eigentum von Mitbewohnern aus Deinem Taschengeld zu beteiligen (Bemerkung: hier könnte jetzt ein Prozentsatz als Obergrenze eingefügt werden/ maximaler Prozentsatz der Beteiligung, bezogen auf das gesamte monatliche Tasdchengeld). Der Prozentsatz der Beteiligung darf nicht so hoch liegen, dass der Taschengeldzweck „im laufenden Monat persönliche Bedürfnisse zu stillen“ konterkarriert wird, d.h. keinesfalls über 50 %. Der neue Bewohner wird gebeten, die Regel zu akzeptieren, was protokolliert wird. Widerruft es später diese pädagogische Vereinbarung, die ihm in ihrer pädagogischen Sinnhaftigkeit erläutert wird, wird ihm eine Auszeit eingeräumt, verbunden mit dem Hinweis, dass diese Regel eine Basis der jetzigen Betreung ist und – falls er sich daran nicht mehr gebunden fühle – sein weiterer Aufenthalt in der Einrichtung überdacht werden müsste.
Als Beispiel einer einrichtungsinternen Taschengeld- Regelung sei auf eine entsprechende Taschengeld- Richtlinie in Bremen verwiesen:
„6.4 Aus dem Taschengeld können Verbindlichkeiten gegenüber Dritten (Schulden) und anerkannte oder gerichtlich festgestellte Schadenersatzansprüche erfüllt werden. Hierfür sollte eine ratenweise Tilgung einvernehmlich mit dem jungen Menschen vereinbart werden. Sie hat sich an der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, d. h. die Dauer der Tilgung und die Höhe der wöchentlichen bzw. monatlichen Raten muss für den jungen Menschen einsichtig sein. Für Kinder sind bereits zwei Monate eine lange Zeit. Für Jugendliche sollte ein Zeitraum von 6 Monaten möglichst nicht über- schritten werden. Mit ihrem Einverständnis sind besonders für ältere Jugendliche und junge Volljährige individuelle Lösungen möglich, die unbedingt schriftlich festzuhalten sind. In keinem Fall darf der Tilgungsbetrag 50 % des Taschengeldes/ Barbetrages der jeweiligen Altersstufe übersteigen.
6.5 Eine Heranziehung gegen den Willen des Minderjährigen darf nur nach ausdrücklicher Erklärung und Begründung durch die sozialpädagogischen Betreuungskräfte im Einvernehmen mit der Leitung der Einrichtung/ sonstigen Betreuten Wohnform und den Personensorgeberechtigten erfolgen (Bemerkung des Projekts: davon wird abgeraten, da der Taschengeldanspruch höchstpersönlich ist). Sie ist schriftlich zu dokumentieren und zur Einrichtungsakte des jungen Menschen zu nehmen. Bei größeren Verbindlichkeiten, die € 255,65 überschreiten, und in Zweifelsfällen ist der fallführende Sozialdienst und das Landesjugendamt Bremen zu beteiligen, um festzustellen, ob die Verhältnismäßigkeit der vorgenannten Ziffer 6.4 gewahrt ist.“